Am 13. August 1942 wurde die Landesheilanstalt Hadamar wieder vollständig mit Patienten und Patientinnen belegt. An diesem Tag wurden 53 Männer, und einen Tag darauf 74 Männer, aus der Nervenklinik Bremen nach Hadamar gebracht. Diese ersten beiden Transporte markierten den Beginn eines neuen Mordprogrammes und die Wiedereinrichtung einer „Euthanasie“-Tötungsanstalt in Hadamar.

Zwischen August 1942 und März 1945 ermordete das Personal mehr als 4.400 Menschen durch überdosierte Medikamente, Mangelernährung und extreme Vernachlässigung im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“. Am 26. März 1945 befreiten US-amerikanische Truppen die Stadt Hadamar sowie die Tötungsanstalt Hadamar.

Die Gedenkstätte Hadamar stellt hier in regelmäßigen Abständen Biografien der Verfolgten und Ermordeten der „dezentralen Euthanasie“ zwischen 1942 und 1945 vor. Die Biografien werden auch auf unserer Facebook-Seite veröffentlicht. Die Kampagne trägt den Namen #Hadamar1942Bis1945 und wird bis März 2025 fortgesetzt.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist eine Fotografie eines jungen Mannes, er trägt einen Anzug und schaut an der Kamera vorbei. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Helmut Francke, auf dem anderen die Jahreszahl 1925. Die Balken sind dunkelblau.
Portrait von Helmut Francke. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, K 12, Nr. 4334

Helmut Francke - „er gehört (…) nun in eine gesunde Umgebung und ordentliche Berufsarbeit zurück“*

Helmut Francke wurde 1925 in Magdeburg geboren. Er wuchs zusammen mit seiner Zwillingsschwester und seiner älteren Schwester Ruth bei den Eltern auf. Als er elf Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Beide bezichtigten sich der Untreue und hegten fortan eine tiefe Abneigung gegeneinander, die auch den Kindern nicht verborgen blieb. Während die Mädchen bei der Mutter in Magdeburg blieben, zog Helmut 1938 zu seinem Vater und dessen neuer Frau in die Nähe von Brandenburg. Der Vater schien streng, aber auch um das Wohlbefinden des Sohnes besorgt zu sein.

Im Sommer 1940 erhielt seine Schwester Ruth die Nachricht, dass ihr Verlobter im Krieg gefallen war. Sie beging daraufhin Selbstmord. Im gleichen Jahr begann Helmut eine Bäckerlehre in Brandenburg. Er schien dabei jedoch von Anfang an Probleme zu haben, er schien vergesslich, unordentlich und rebellierte zunehmend gegen Regeln. Immer öfter fuhr er in dieser Zeit auch nach Magdeburg, um seine Mutter zu besuchen. Der Vater gab schließlich ihr die Schuld am ungewollten Verhalten des Sohnes und versuchte, den Kontakt zu verbieten. 1943 wurde Helmut von der Polizei in Brandenburg wegen „öffentlichen Unfugs“ aufgegriffen und schließlich mit Verdacht auf eine geistige Erkrankung in die Anstalt Görden eingewiesen.

Beide Eltern hielten engen Kontakt zu Helmut. Sie schrieben Briefe, schickten Pakete und besuchten ihn. Im November 1943 wurde Helmut kriegsbedingt in einem Großtransport in die Anstalt Hadamar verlegt. Der Kontakt zu den Eltern brach trotz der weiten Entfernung nicht ab. Am 12. Januar 1944, besuchte der Vater ihn in Hadamar. Es war Helmuts 19ter Geburtstag. Im Sommer des gleichen Jahres kam auch seine Mutter für mehrere Tage zu Besuch.

Hadamar war zu dieser Zeit keine herkömmliche Anstalt. Im Rahmen der NS- „Euthanasie“ starben hier zwischen 1942–1945 Tausende von Menschen an den Folgen von Vernachlässigung, Nahrungsentzug und überdosierten Medikamenten. Hadamar war eine Tötungsanstalt. Die Mehrzahl der Menschen überlebte nur eine relativ kurze Zeit in der Anstalt. Helmuts körperliche Arbeitsfähigkeit wird ihm vermutlich das Leben gerettet haben. Seit seiner Ankunft wurde er in einer Feldkolonne eingesetzt. Im November 1944 wurde er schließlich in „Familienpflege“ zur Familie Duchscherer in Hadamar gegeben. Hier half Helmut fortan in der Bäckerei der Familie.

Als im März 1945 die Stadt durch US-Soldaten vom Nationalsozialismus befreit wurde, endete auch die „Euthanasie“ in Hadamar. Im Oktober 1945 floh Helmut gemeinsam mit drei weiteren Patienten. Er wurde nachträglich entlassen und kehrte, so viel wir wissen, nie wieder an diesen Ort zurück.

*Aus einem Schreiben des Vaters mit Bitte um Entlassung, vom 7.4.1944, LWV-Archiv, K12, Nr. 4334

Quelle: LWV-Archiv, K 12, Nr. 4334

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein Zitat eingefügt: "Ich finde wichtig, dass er furchtlos war, weil er den ausländischen Sender gehört hat obwohl es verboten war und dass sich sein Verhalten vor und nach der Einweisung in die Anstalt geändert hat.“ – Schülerpraktikant Robin, 9. Klasse." Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Ricjard Eichholz, auf dem anderen die Jahreszahlen 1908-1943. Die Balken sind dunkelblau.
Grafik: Gedenkstätte Hadamar

Richard Eichholz

Am 29. Dezember 1943 starb Richard Eichholz im Alter von 35 Jahren in der Landesheilanstalt Hadamar. Er war während des Zweiten Weltkrieges auf ungewöhnlichem Weg in Anstaltsverwahrung gekommen. Nachdem ein Freund aus seinem queeren Bekanntenkreis in Berlin denunziert wurde, erhielt Eichholz eine Vorladung zur Befragung bei der Gestapo. In der Wohnung des Freundes sollen regelmäßig Treffen von queeren Menschen stattgefunden haben, es wurde Musik gehört, geraucht, getrunken und sich zudem offen über politische Themen ausgetauscht. Richard Eichholz geriet ins Visier der Gestapo, da er ein „Stammgast“ auf diesen Treffen gewesen sein soll, homosexuell war und zudem verbotenerweise ausländische Radiosender gehört habe.

Aus den Verhörprotokollen geht hervor, dass aus Sicht der Gestapo wenig Zweifel an diesen Behauptungen bestanden. Ein richtiges „Geständnis“ legte Eichholz jedoch nicht ab, vielmehr erschienen seine Antworten und sein Verhalten zunehmend „so unsinnig und unlogisch“, dass man ihn mit ärztlichem Gutachten als „gemeingefährlichen Geisteskranken“ in eine Anstalt einweisen ließ. Die nächsten drei Jahre verbrachte Eichholz in Berlin-Wuhlgarten, Teupitz und schließlich in Brandenburg/Görden. Die ganze Zeit über stellte seine Mutter Anfragen nach Entlassung oder zumindest Beurlaubung ihres Sohnes. Stattgegeben wurde dem nie, zu schlecht sei sein gesundheitlicher Zustand.

Im Zuge einer größeren Verlegungsaktion aus Görden wurde Eichholz am 18. November 1943 in die hessische Anstalt Hadamar gebracht. Zu diesem Zeitpunkt starben in Hadamar im Rahmen der NS-„Euthanasie“ nahezu täglich Menschen durch Medikamente, Nahrungsentzug und Vernachlässigung – ein Umstand, der auch Eichholz bewusst war. Nachdem er längere Zeit in der Gartenkolonne gearbeitet hatte, unternahm er am 21. Dezember 1943 einen Fluchtversuch. Kurz darauf wurde er in Herborn von der Polizei wieder aufgegriffen. Dort gab er an: „Als Grund meines Entweichens führe ich an, dass es mir in dieser Heilanstalt unheimlich zu Mute ist, weil blühende Menschen plötzlich sterben müssen […]“. Ungeachtet dessen wurde er wieder nach Hadamar zurückgebracht. Umgehend veranlasste der Chefarzt der Anstalt, Dr. Wahlmann, dass die Mutter über eine schwere Erkältung ihres Sohnes informiert wird. Nur wenige Tage später war Richard Eichholz tot.

Im November 2023 hatte die Gedenkstätte für zwei Wochen einen Schülerpraktikanten, der bei der Vorbereitung dieses Posts mitgeholfen hat. Auf die Frage, warum die Geschichte von Richard Eichholz erzählt werden sollte, antwortete er: „Man sollte sich seine Geschichte anhören, weil es interessant ist, wie und warum die Leute in eine Anstalt kamen und wie das Verhalten und der Umgang der Menschen dort gewesen ist und viele Leute dieses Thema gar nicht so im Kopf haben.“

Quelle: LWV-Archiv, K 12, Nr. 4676

Wir danken unserem Schülerpraktikanten Robin für seine tolle Unterstützung bei der Vorbereitung des Posts.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist eine Fotografie eines Aktendeckels. Der Deckel ist blau, darauf sind handschriftlich einige Informationen festgehalten. Der Name Willi Pack ist zu lesen. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Willi Pack, auf dem anderen die Jahreszahlen 1921-1943. Die Balken sind dunkelblau.
Grafik: Gedenkstätte Hadamar

Willi Pack

Im Februar 1941 wurde der 19-jährige Willi Pack aus Hamburg in die Wehrmacht eingezogen. Er blieb zunächst in Lüneburg stationiert, bis sein Truppenteil ab Juni 1941 als Teil der „Heeresgruppe Mitte“ am Feldzug gegen die Sowjetunion teilnahm.

Bereits einen Monat später kam Willi Pack in der Nähe von Smolensk ins Feldlazarett. Er sei durch „Feindeseinwirkung im Osten“ durch zwei Granatsplitter am Kopf verwundet worden. Bei der Entfernung des größeren Splitters verlor er sein rechtes Auge. Zur weiteren Behandlung und Genesung verlegte man ihn über mehrere Lazarettstationen zurück ins deutsche Reichsgebiet. Während seine körperlichen Wunden gut verheilten schien es ihm psychisch schlecht zu gehen.

Daher folgte im Winter 1941 die Überweisung in ein Lazarett mit Nervenabteilung. Hier diagnostizierte man eine „depressive Reaktion“ auf den Verlust des Auges. Willi Pack selbst berichtete von Angstgefühlen, starkem Herzklopfen und Schlafstörungen. Er habe zuweilen ängstliche Träume vom Krieg und mache sich Sorgen um seine Familie. Nach insgesamt knapp 10 Monaten Lazarettbehandlung wurde er gegen Ende Mai 1942 wieder entlassen. Nach einem Genesungsurlaub in Hamburg sollte er sich dort wieder bei einem neuen Truppenteil einfinden. Dazu kam es jedoch nicht mehr.

Stattdessen wurde er im Oktober 1942 in die Nervenabteilung des Reservelazarett V in Hamburg aufgenommen. Dort änderte sich die Diagnose folgenschwer: aufgrund des „zu lange anhaltenden“ schlechten Zustandes wurde nicht mehr von einer Reaktion auf die Kriegsverletzung ausgegangen, sondern von einer „schizophrenen Grunderkrankung“. Mit Hinweis auf einen Anstaltsaufenthalt seiner Mutter wurde er als „erbkrank“ gebrandmarkt.

Vom Lazarett kam er in die Nervenklinik in Hamburg-Eppendorf zur Elektroschocktherapie, welche vor allem bei Schizophrenien und Depressionen angewendet wurde. Obwohl er als „wehruntauglich“ aus der Wehrmacht entlassen wurde, kam diese für die Kosten seiner Behandlung auf, solange er mit Aussicht auf Heilung oder Besserung behandelt wurde. Die Therapie sollte jedoch keine Veränderung bewirken. Anfang 1943 kam er in die Anstalt Hamburg-Langenhorn. Von hier ging die Meldung an das Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt, dass es sich bei Willi Pack nun um einen reinen „Verwahrfall“ handelte. Mit diesem Urteil wurde er endgültig aus der Wehrmachtsversorgung ausgeschlossen.

Im August 1943 gelangte Willi Pack mit einem Sammeltransport in die hessische Anstalt Eichberg. Von dort ging eine der letzten Meldungen an die Familie: er würde nichts arbeiten, läge dauernd zu Bett und sei sehr unruhig – Merkmale, die in dieser Zeit zur schnelleren Selektion für die „Euthanasie“ führen konnten. Nur knapp 2 Monate später folgte die Überweisung nach Hadamar. Hier überlebte er nur einen Monat. Am 16. November 1943 starb er. Er war 21 Jahre alt.

Quellen:

LWV-Archiv, K 12, Nr. 1277

Bundesarchiv Berlin, Abt. PA, B563-1 KARTEI/P18/346

Bundesarchiv Berlin, Abt. PA, B578 Krankenbuchlager Einzelakten (Willi Pack, 06.12.1921)

Zum Schicksal dieser Opfergruppe in Hadamar: „wehe unseren braven Soldaten …!“ Die Ermordung von Angehörigen der Wehrmacht, Waffen-SS und Organisation Todt in der „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hadamar, in: Florian Bruns, Fritz Dross u. Christina Vanja (Hrsg.), Spiegel der Zeit. Leben in sozialen Einrichtungen von der Reformation bis zur Moderne. Festschrift für Christina Vanja, Berlin 2020 (Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte, Bd. 31, 2018/19), S. 295-319.

Wir danken dem Kollegen im Bundesarchiv Berlin, Abteilung PA für die umfangreiche Unterstützung bei der Recherche zu mehreren der ermordeten Soldaten in Hadamar.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Portrait eines jungen Mannes, der ernst in die Kamera schaut. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Adolf L., auf dem anderen die Jahreszahl 1920. Die Balken sind dunkelblau.
Portrait von Adolf L. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv Kassel, K 12, Nr. 2485

Adolf L. – „Sein Fleiß und sein Betragen sind einwandfrei“*

Am 02. September 1943 Jahren erreichte ein Schreiben der Landesheilanstalt Meseritz-Obrawalde die Anstalt auf dem Mönchberg in Hadamar: der aus Hadamar entflohene und wieder aufgegriffene Patient Adolf L. sei aus dem Polizeigefängnis in die eigene Anstalt überführt worden. Man bitte nun um Einsicht in die Krankengeschichte sowie Übersendung weiterer Unterlagen.

Adolf hatte sich knapp 10 Monate in Hadamar aufgehalten, als er im August 1943 aus der Anstalt floh. In dieser Zeit wurde in Hadamar im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“ mit Medikamenten, Nahrungsentzug und extremer Vernachlässigung gemordet. Die Chancen diesen Ort wieder lebend zu verlassen, waren verschwindend gering. Adolf L. gelang es durch seine Flucht der Tötungsanstalt zu entkommen.

Mit der Aufnahme in Meseritz-Obrawalde kam er jedoch schon kurze Zeit später an einen Ort, an dem in noch größerem Umfang gemordet wurde. In Meseritz wurden Hochrechnungen zufolge in den Jahren 1942–1945 bis zu 10.000 Menschen Opfer der „Euthanasie“. Wie genau es Adolf schaffte auch diesen Ort zu überleben, wissen wir nicht. Aber er tat es.

Es war nicht das erste Mal, dass Adolf L. mit der „Euthanasie“ in Kontakt gekommen war. Mit 19 Jahren wurde er wegen schweren Raubes straffällig. Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens wies man ihn 1939 als „kriminellen Geisteskranken“ aufgrund des §42b in die Anstalt Tapiau ein. Mitte August 1941 wurde er in einem Sammeltransport nach Teupitz verlegt – eine Anstalt, die im Rahmen der „Aktion T4“ eine „Zwischenanstalt“ zu einer Gasmordanstalt war. Die Verlegung legt nahe, dass er für die „Euthanasie“ selektiert worden war. Dem Tod in der Gaskammer entging er durch den offiziellen Stopp der Aktion am 24.08.1941 nur knapp.

Von Teupitz führte sein Weg über die Anstalt Altscherbitz schließlich im November 1942 nach Hadamar. Er war einer von 112 verlegten Menschen. Bis Ende Juni 1943 waren bereits über 90% von ihnen ermordet worden. Vor allem für die letzten Kriegsjahre gilt, dass jene Patientinnen und Patienten bessere Überlebenschancen hatten, die arbeitsfähig oder wenig pflegebedürftig waren und sich gut in die Anstaltsordnung einfügten. Adolf arbeitete in Hadamar zunächst in der Schreinerei und wurde dann auf das Hofgut der Anstalt verlegt. Sehr wahrscheinlich bot sich ihm hier die Chance zur Flucht.

Bis heute ist Adolf L. die einzige uns bekannte Person, die nicht nur der „Aktion T4“ entkam, sondern auch zwei der prominentesten Tötungsanstalten der „dezentralen Euthanasie“ überlebte.

*Auszug aus einem ärztlichen Gutachten, Hadamar April 1943, LWV-Archiv Kassel, K 12, Nr. 2485

Quelle: LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 2485

Zum Weiterlesen über Meseritz: Harald Jenner, Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde. Der unbekannte Tötungsort, in: Osterloh, Jörg/ Schulte, Jan Erik/ Steinbacher, Sybille (Hrsg.): „Euthanasie“-Verbrechen im besetzten Europa, Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Band 6, Göttingen 2022, S. 97–110.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein buntes Aquarell, auf dem Häuser und ein Vorgarten abgebildet sind. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Edith Speck, auf dem anderen die Jahreszahlen 1929-1943. Die Balken sind dunkelblau.
Aquarell von Barbara Menges als Teil des Erinnerungsberichtes ihrer Mutter über Edith Speck. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Aquarell: Privat

Edith Speck - „Sie war voller Freundlichkeit, Liebe und Lachen.“*

„Rollschuhfahren, das ist eine feine Sache!“, erinnerte sich Hannelore an ihre Freundin Edith. Die beiden Mädchen wohnten in der gleichen Nachbarschaft und hatten sich schnell angefreundet. Oft trafen sie sich draußen zum Spielen und Rollschuhfahren. Im Sommer 1943 verloren sie sich jedoch aus den Augen, als Edith in ein „Erziehungsheim“ gebracht wurde und nicht mehr zurückkehrte.

Edith war bereits mit 10 Jahren Vollwaise geworden. Anfang der 1930er hatte sie mit ihren Eltern und ihrer Großmutter zusammen in Wiesbaden gewohnt, bis ihre Eltern 1935 nach Worms gingen und sich scheiden ließen. Ein Jahr später wurde ihre Mutter in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen. Edith blieb bei ihrer Großmutter in Wiesbaden. 1937 verlor sie zuerst ihren Vater, drei Jahre später auch ihre Mutter.

Bei ihrer Mutter wissen wir, dass diese im Mai 1940 in die „Euthanasie“-Tötungsanstalt Grafeneck gebracht und im Zuge der „Aktion T4“ ermordet wurde. Ob und was Edith von dem Schicksal ihrer Mutter erfuhr, ist unbekannt.
1941 kam Edith auf die Mittelschule. Sie hatte gute Noten und es schien ihr bei der Großmutter trotz allem gut zu gehen. Als ihre Großmutter aufgrund ihres Alters in ein jüdisches „Schwestern- und Altersheim“ kam, zog Edith zu einer Pflegefamilie. 1942 verlor Edith schließlich auch ihre Großmutter. Anfang September wurde diese nach Theresienstadt deportiert – ein von der SS geführtes Ghetto. Bereits Ende des Monats starb sie.

Im Juni 1943 musste Edith ihre Pflegefamilie verlassen und kam in ein „Erziehungsheim für jüdische Mischlinge 1. Grades“. Dieses „Erziehungsheim“ war in der Landesheilanstalt Hadamar eingerichtet worden. Hier sollten Kinder und Jugendliche untergebracht werden, die unter staatlicher Fürsorgeerziehung standen und mindestens ein jüdisches Elternteil hatten. Dieses „Erziehungsheim“ existierte jedoch nur zum Schein, tatsächlich war Hadamar eine „Euthanasie“-Tötungsanstalt, in der zwischen 1942–1945 mit überdosierten Medikamenten, Hunger und Vernachlässigung gemordet wurde. Durch das „Erziehungsheim“ gerieten auch Kinder und Jugendliche in die NS-„Euthanasie“, die nicht zwangsläufig psychiatrische Diagnosen hatten. Sie wurden aus rassistischen Gründen verfolgt und über das Fürsorgesystem hatte man Zugriff auf sie. Edith überlebte nur eine Woche. Am 7. Juli 1943 starb sie.

Nach Kriegsende erinnerte sich eine der Stationsschwestern an Edith: „Das Kind war ungefähr 13 Jahre alt, hat wohl eine sehr gute Schule besucht, war recht intelligent, war niemals auffällig, hat sich niemals auffällig betragen. Sie war recht lustig, niemals frech und ungezogen, völlig normal, körperlich, geistig, charakterlich.“ Und auch ihre Freundin Hannelore vergaß Ediths freundliche Art nie: „Sie war voller Freundlichkeit, Liebe und Lachen. Sie war lustig, und sie war meine Freundin.“
Heute liegen für Edith, ihre Mutter Elisabeth und ihre Großmutter Ida in Wiesbaden Stolpersteine. Seit Januar 2023 gibt es eine digitale Sonderausstellung der Gedenkstätte zu weiteren Kindern aus dem „Erziehungsheim Hadamar“.

* Erinnerung einer Kindheitsfreundin von Edith

Quelle:

LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 5048
Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA WI), Abt. 461, Nr. 32061, Bd. 7, S. 57

Wir danken der Familie Menges für den Erinnerungsbericht an Edith. Unterstützung bei der Recherche erhielten wir von Frau Michel, Frau Dr. Schaub sowie der Gedenkstätte Grafeneck. 

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto, auf dem ein Mann abgebildet ist. Er ist in einem Portrait-Format fotografiert worden und schaut in die Kamera. Links vom Portrait ist ein Ausschnitt aus einem Schreiben zu sehen. Darauf ist in roter Tinte ein großes D gestempelt. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Rudolf Graf von Ingenheim, auf dem anderen die Jahreszahlen 1878-1943. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Foto aus der Akte von Rudolf Graf von Ingenheim. Das "D" steht für "Durchgangskranke" und bedeutet, dass er bereits für die "Aktion T4" selektiert war. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 980

Rudolf Graf von Ingenheim – „Lebt scheinbar mit seinen Gedanken in einer anderen Welt.“*

Im April 1943 meldete der Pfleger Philipp Blum dem städtischen Standesamt in Hadamar sieben Todesfälle aus der Anstalt auf dem Mönchberg. Einer von ihnen war Rudolf Graf von Ingenheim. Er sei zwei Tage zuvor im Alter von 64 Jahren an „Altersschwäche“ gestorben. Tatsächlich gehörte er zu einer besonderen Gruppe von Ermordeten der „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hadamar.
In der Krankenakte von Rudolf von Ingenheim prangert ein großes rotes „D“. Das „D“ stand für „Durchgangskranke“ und bedeutet, dass er im Jahr 1941 für die „Aktion T4“ selektiert worden war. Die „Aktion T4“ war das zentrale Gasmordprogramm der Jahre 1939–1941. Rudolf hatte die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens in Anstaltspflege verbracht. Über seine Kindheit und Jugend wissen wir heute nichts mehr. Am 25. August 1941 kam er mit der Bewertung „unheilbar“ als „Durchgangskranker“ in der sächsischen Anstalt Zschadraß an. Zschadraß war zu diesem Zeitpunkt eine der Zwischenanstalten für die „T4“-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Von hier sollte er also nach Pirna-Sonnenstein verlegt und in der dortigen Gaskammer ermordet werden. Einer Verlegung in den Tod entging er jedoch, da Hitler nahezu zeitgleich mit Rudolfs Ankunft in Zschadraß den offiziellen Stopp der „Aktion T4“ angeordnet hatte.
Rudolf blieb daraufhin keine zwei Monate in Zschadraß, Anfang Oktober 1941 wurde er nach Arnsdorf verlegt. Dort wurde er als ruhiger Patient wahrgenommen, der sich die meiste Zeit zurückzog. Nach einer Verletzung am Bein verbrachte er ab Dezember 1942 die meiste Zeit im Bett und wurde behandelt. Mehr ist über ihn heute nicht mehr zu erfahren.
Ende März 1943 wurde er zusammen mit 43 weiteren Männern und Frauen nach Hadamar verlegt. Es waren alles „Durchgangskranke“. Mit diesem Transport verlegte man also jene Menschen, die schon in der „Aktion T4“ hätten sterben sollen.
Zu diesem Zeitpunkt war Hadamar eine Tötungsanstalt der „dezentralen Euthanasie“. Die hier ankommenden Menschen wurden extrem vernachlässigt und bewusst ausgehungert. Zudem wurde in der Anstalt mit überdosierten Medikamenten gemordet. Rudolf von Ingenheim überlebte nur drei Tage. Am 3. April 1943 starb er.

*Auszug der Krankengeschichte in Arnsdorf (LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 980)

Quelle: LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 980

Wir danken den Kolleginnen und Kollegen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten für die Unterstützung zur Recherche. Mehr Informationen zu den sächsischen Anstalten sind auf der Website der Stiftung Sächsische Gedenkstätten abrufbar.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto von einem Friedhof. Nebeneinander sind kleine Gräber zu sehen, auf denen nur schwarze Pfosten stehen. Im Hintergrund ist eine Mauer. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Kurt Jakob, auf dem anderen die Jahreszahlen 1940-1943. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Auf einem gesonderten Bereich des Anstaltsfriedhofs fanden die Amerikaner zum Zeitpunkt der Befreiung 13 Einzelgräber vor, in denen vermutlich Kinder bestattet wurden. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Photograph Number: 05414

Kurt Jakob - „Eine Familienpflege kommt nicht in Frage, da das Kind immer sehr hilfsbedürftig bleiben wird und zu keinerlei Hoffnungen berechtigt.“*

Im Februar 1943 wurden innerhalb von sechs Tagen 172 Patienten und Patientinnen von der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Unter den Verlegten befanden sich 51 Kinder im Alter von 2-10 Jahren. Auf diesem Weg gelangte heute vor 80 Jahren auch der 2-jährige Kurt Jakob nach Hadamar. Er war das jüngste Kind unter den Verlegten.

Kurt wurde im November 1940 als uneheliches Kind in Kassel geboren. Bereits kurz nach der Geburt befand er sich im Kinderheim und Kinderkrankenhaus Park-Schönfeld in Kassel. Ob überhaupt Kontakt zu den Eltern bestand, geht heute aus den Unterlagen nicht mehr hervor. Laut seiner Krankenakte galt er seit Geburt als ein körperlich unterentwickeltes Kind, bei dem der Verdacht auf eine geistige Behinderung bestand.

Mitte Juni 1942 kam er in die Anstalt Scheuern. Kurz zuvor verschärfte sich das Urteil über ihn: „Es handelt sich bei Kurt Jakob um ein körperlich und geistig minderwertiges Kind, von dem nicht zu erwarten ist, dass diese Mängel jemals wieder eingeholt werden.“*

In Scheuern verbrachte er die meiste Zeit im Bett und wurde als unselbstständiges Kind mit hohem Pflegeaufwand beschrieben. Mit einer abschließenden Bewertung als „offenbar aussichtsloser Pflegefall“ wurde er im Februar 1943 nach Hadamar verlegt. 12 Tage später starb er. Als Todesursache gab der Arzt in Hadamar, Dr. Wahlmann, „Entkräftung“ und „Marasmus“ [schwere Erkrankung, die meist Folge einer erheblichen Mangelernährung ist] an – Versuche das Kind zu versorgen, wurden in der Tötungsanstalt Hadamar eingestellt.

Kurt Jakob war das jüngste Kind, das sich im Fürsorge- oder Anstaltssystem befand und zwischen 1942–1945 in Hadamar ermordet wurde.

Wo Kurt beerdigt wurde ist heute nicht mehr bekannt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er auf dem 1942 angelegten Anstaltsfriedhof in einem gesonderten Bereich beigesetzt. 13 Einzelgräber weisen auf Grabstellen von Kindern hin, die im Alter von bis zu 5 Jahren starben. Mit letztendlicher Sicherheit lässt sich dies jedoch nicht mehr beweisen.

* Eintragung in der „Krankheitsgeschichte“ Scheuern (LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 876).

Quelle : LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 876

Wir danken der Stiftung Scheuern, dem Stadtarchiv Kassel, dem Hessischen Staatsarchiv Marburg, sowie dem LWV-Archiv Kassel für die Unterstützung zur Recherche.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto, auf dem ein junger Mann abgebildet ist. Er ist in einem Portrait-Format fotografiert worden und schaut in die Kamera. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Karl M., auf dem anderen die Jahreszahl 1914. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Portrait von Karl M. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, Best. 12, K 3093

Karl M. - „Sie können ihn an einem beliebigen Wochentag abholen.“*

Karl M. wurde am 11. Dezember 1914 in Essen geboren. Seit seinem fünften Lebensjahr befand er sich in mehreren Waisen- und Erziehungsheimen. Mit den Bewertungen als „bildungsunfähig“ und „erbkrank“ wurde er 1928 in die Obhut der evangelischen Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ in Mönchen-Gladbach gegeben. Karl galt dort als „liebenswürdiger“ und „anhänglicher“ junger Mann, der sich jedoch auch leicht von anderen beeinflussen ließe und zu „Wutausbrüchen“ neige. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Personal kam er im Januar 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal bei Süchteln. Sein dortiger Aufenthalt war geprägt von zahlreichen Fluchtversuchen, bis er im Mai 1941 in Kontakt mit der NS-„Euthanasie“ kam.
Im Sammeltransport wurde er in die Anstalt Andernach verlegt, die zu diesem Zeitpunkt eine „Zwischenanstalt“ der Tötungsanstalt Hadamar war. Karl war also für die „Aktion T4“ selektiert worden. Am 20. Juni 1941 kam er mit über 100 weiteren Menschen nach Hadamar. Noch am Ankunftstag schickte man ihn jedoch zum
anstaltseigenen Hofgut Schnepfenhausen. Damit ist Karl M. die einzige uns bekannte Person, die diesen Transport überlebte.
Im August 1941 wurde die „Aktion T4“ abgebrochen. Karl blieb weiterhin als Patient auf dem Hofgut. Eine psychiatrische Behandlung erhielt er hier jedoch nicht mehr, von nun an ging es nur noch um seine Arbeitsfähigkeit. Er arbeitete fortan im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Schneiderei der Anstalt.
Ab August 1942 setzte in Hadamar ein zweites „Euthanasie“-Programm ein, bei welchem bis Kriegsende mehr als 4.400 Menschen durch den Entzug lebensnotwendiger Ressourcen und der Gabe überdosierter Medikamente ermordet wurden. Karl befand sich auf dem Hofgut erneut in unmittelbarer Reichweite der „Euthanasie“.
Karl und seine Familie wünschten sich bereits seit Jahren eine Entlassung. Seine Patientenakte enthält Briefe seines jüngeren Bruders an die Anstalt Hadamar mit der Bitte zur „Freilassung“ von Karl. Im November 1942 sollte diese Bitte erfolgreich sein, Karl durfte von seinem Bruder abgeholt werden. Nach jahrzehntelangem Anstaltsaufenthalt war Karl an seinem 28. Geburtstag, am 11. Dezember 1942, wieder bei seiner Familie.

* Auszug aus einem Schreiben des Arztes Dr. Wahlmann an den Bruder, November 1942 (LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 3093).

Quelle: LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 3093

Wir danken dem Standesamt Essen, den Stadtarchiven Düsseldorf, Euskirchen und Wuppertal, sowie dem Landesarchiv NRW für die Unterstützung zur Recherche.

Eine Grafik mit einem hellblauen Hintergrund. Rechts oben steht in mittelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. In der Mitte ist ein großes Foto von einem Stolperstein abgebildet., auf dem neben dem Namen Renate Brüggemann auch die Lebens- und Sterbedaten eingraviert sind. Rechts unten sind zwei0 mittelblaue Balken, im ersten Balken steht in weißer Schrift "Renate Brüggemann", im zweiten steht "1920-1942" geschrieben.
Stolperstein für Renate Brüggemann in Limburg an der Lahn. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: StALM II/3271

Renate Brüggemann

Im Mai 1920 wurde Renate in die Limburger Arbeiterfamilie Fischer geboren. Sie war das dritte von vier Kindern. Bis sie 15 Jahre alt war besuchte sie die Volksschule in Limburg. Drei Jahre später starb ihre Mutter. Renate hatte nach damaligem medizinischem Verständnis eine angeborene geistige Behinderung. Aufgrund dieser Diagnose und einem aus damaliger gesellschaftlicher Sicht „haltlosen Lebenswandels“ wurde sie im Alter von 20 Jahren zwangssterilisiert. Ein Jahr später heiratete sie den 24 Jahre älteren Arbeiter Theodor Brüggemann. Sie lebten zusammen in Limburg in ihrem Elternhaus.

Im Herbst 1942 erhielt die Familie die Nachricht über den „Heldentod“ von Renates jüngerem Bruder. Daraufhin bemerkte die Familie bei ihr eine „plötzliche Veränderung“. Da Renate aus ärztlicher Sicht psychiatrische Behandlung und Fürsorge brauchte, wurde sie am 17. Oktober 1942 von ihrer Stiefmutter zur Aufnahme in die Anstalt Hadamar gebracht. Sie kam auf die Station „II a“, eine der Frauenstationen im Hauptgebäude der Anstalt.
Hadamar war zu diesem Zeitpunkt jedoch längst kein Ort der Pflege mehr, sondern eine Tötungsanstalt der NS-„Euthanasie“. Durch die nahezu permanente Überbelegung der Anstalt sowie mangelnder hygienischer Versorgung waren die Frauen in desolaten Zuständen untergebracht. Insbesondere die nicht arbeitsfähigen Patientinnen mussten aufgrund einer bewussten Mangelernährung Hunger leiden. Zusätzlich wurde unter anderem auf der Station „II a“ mit überdosierten Medikamenten gezielt gemordet.

Das Sterben auf der Station blieb auch den Frauen selbst nicht verborgen. Was Renate miterlebte, können wir nicht mehr beurteilen. In ihrer Krankenakte wurde sie als pflegebedürftige Patientin beschrieben, deren Zustand sich ab Ende Oktober rapide verschlechterte. Am 18. November 1942 starb sie in der Tötungsanstalt im Alter von 22 Jahren.
Der Leichnam von Renate Brüggemann wurde nach Limburg überführt und auf dem städtischen Hauptfriedhof beerdigt. Sie ist damit eine von wenigen in Hadamar ermordeten Menschen, deren Leichnam ab 1942 nicht auf dem Anstaltsfriedhof im Massengrab vergraben wurde.

Am 05. November 2022 wurden in Limburg acht Stolpersteine für Opfer der „Euthanasie“ verlegt. Einer ist für Renate Brüggemann. Die Verlegung wurde von dem Stadtarchiv und der Stadt Limburg organisiert.

Quelle:

LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 3645
HStAWi, Best. 473/3 Nr. 679
StALM II/3271

Wir danken dem Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, sowie dem Stadtarchiv Limburg für die Unterstützung zur Recherche und die Bereitstellung der Fotografie.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto, auf dem eine junge Frau abgebildet ist. Sie trägt eine Schürze und eine karierte Bluse und schaut etwas verlegen in die Kamera, sie lächelt. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Maria Wolter, auf dem anderen die Jahreszahlen 1902 - 1942. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Portrait von Maria Wolter. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, Best. 12, K 2176

Maria Wolter – „Ganz besonders ist ihr kolossaler Eigensinn zu betonen.“*

Maria Wolter wurde im Sommer 1902 in Köln-Riehl geboren. Bereits im Alter von zwei Jahren befand sie sich in Anstaltspflege. Sie galt als „verträgliches“ und „geselliges“ Kind, das wenig sprach und gerne mit Puppen spielte. Über die Jahre wurde sie vom Pflegepersonal jedoch zunehmend als aggressive und unberechenbare junge Frau beschrieben. Zudem sei sie eine „eigensinnige“ Patientin, die sich zu keiner Behandlung oder Arbeit bewegen ließ, die sie selbst nicht wollte. Über ihre Familienverhältnisse oder eigenen Gedanken und Gefühle erfahren wir aus den Quellen leider nichts mehr. 

Maria galt in der damaligen medizinischen Vorstellung als „erbkrank“. Durch das 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde bei ihr eine Zwangssterilisation möglich. Für Maria wurde jedoch keine Anzeige beim Erbgesundheitsgericht gestellt, da sie als „Dauerfall“ nie die Möglichkeit bekommen sollte, jemals aus der Anstalt entlassen zu werden. Seit 1939 befand sie sich schließlich in der Anstalt Kloster Hoven bei Zülpich, ein von Augustinerinnen geführtes Pflegeheim für katholische weibliche „Geisteskranke“. 

Marias Schicksal wurde in den folgenden Jahren stark vom Kriegsverlauf geprägt. Das Rheinland  war Mitte 1942 von alliierten Bombardierungen betroffen, darunter auch die Stadt Köln. Um Platz für die Versorgung möglicher Bombenopfer zu gewinnen, sollten Kölner Altenheimbewohner:innen in die nahegelegenen Anstalten Düren und Kloster Hoven verlegt werden. Um dies zu ermöglichen, sollte ein Teil der dort untergebrachten Patientinnen weichen. So gelangten 368 Frauen am 18. August 1942 von Kloster Hoven in die hessische Anstalt Hadamar. Es war der größte Transport, der bis Kriegsende in Hadamar ankommen sollte und der letzte Direkttransport aus dem Rheinland. Unter den verlegten Frauen befand sich auch Maria Wolter.

Maria überlebte nur wenige Tage in Hadamar, am 26. August 1942 starb sie. Sie wäre an diesem Tag 40 Jahre alt geworden. Sie gehört damit zu den ersten Ermordeten der neu eingerichteten Tötungsanstalt Hadamar, wo bis Kriegsende durch überdosierte Medikamente, Nahrungsmittelentzug und extreme Vernachlässigung gemordet wurde.

An Marias Schicksal zeichnete sich ein System ab, das in den nächsten Jahren zentral für die NS-Gesundheitspolitik werden sollte: Der Druck des Krieges führte zu einem immer radikaleren Ausschluss von Psychiatriepatient:innen aus der medizinischen Versorgung. Sie wurden bewusst an Orte verdrängt, an denen es nur wenig bis gar keine Chancen zum Überleben gab.

*Auszug eines ärztlichen Aufnahmeprotokolls, Oktober 1904 (LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 2176).

Quelle: LWV-Archiv, Best. K 12, Nr. 2176