Am 13. August 1942 wurde die Landesheilanstalt Hadamar wieder vollständig mit Patient:innen belegt. An diesem Tag wurden 53 Männer, und einen Tag darauf 74 Männer, aus der Nervenklinik Bremen nach Hadamar gebracht. Diese ersten beiden Transporte markierten den Beginn eines neuen Mordprogrammes und die Wiedereinrichtung einer „Euthanasie“-Tötungsanstalt in Hadamar.

Zwischen August 1942 und März 1945 ermordete das Personal mehr als 4.400 Menschen durch überdosierte Medikamente, Mangelernährung und extreme Vernachlässigung im Rahmen der „dezentralen Euthanasie“. Am 26. März 1945 befreiten US-amerikanische Truppen die Stadt Hadamar sowie die Tötungsanstalt Hadamar.

Die Gedenkstätte Hadamar stellt hier in regelmäßigen Abständen Biografien der Verfolgten und Ermordeten der „dezentralen Euthanasie“ zwischen 1942 und 1945 vor. Die Biografien werden auch auf unserer Facebook-Seite veröffentlicht. Die Kampagne trägt den Namen #Hadamar1942Bis1945 und wird bis März 2025 fortgesetzt.

Kurt Jakob - „Eine Familienpflege kommt nicht in Frage, da das Kind immer sehr hilfsbedürftig bleiben wird und zu keinerlei Hoffnungen berechtigt.“*

Im Februar 1943 wurden innerhalb von sechs Tagen 172 Patienten und Patientinnen von der Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt. Unter den Verlegten befanden sich 51 Kinder im Alter von 2-10 Jahren. Auf diesem Weg gelangte heute vor 80 Jahren auch der 2-jährige Kurt Jakob nach Hadamar. Er war das jüngste Kind unter den Verlegten.

Kurt wurde im November 1940 als uneheliches Kind in Kassel geboren. Bereits kurz nach der Geburt befand er sich im Kinderheim und Kinderkrankenhaus Park-Schönfeld in Kassel. Ob überhaupt Kontakt zu den Eltern bestand, geht heute aus den Unterlagen nicht mehr hervor. Laut seiner Krankenakte galt er seit Geburt als ein körperlich unterentwickeltes Kind, bei dem der Verdacht auf eine geistige Behinderung bestand.

Mitte Juni 1942 kam er in die Anstalt Scheuern. Kurz zuvor verschärfte sich das Urteil über ihn: „Es handelt sich bei Kurt Jakob um ein körperlich und geistig minderwertiges Kind, von dem nicht zu erwarten ist, dass diese Mängel jemals wieder eingeholt werden.“*

In Scheuern verbrachte er die meiste Zeit im Bett und wurde als unselbstständiges Kind mit hohem Pflegeaufwand beschrieben. Mit einer abschließenden Bewertung als „offenbar aussichtsloser Pflegefall“ wurde er im Februar 1943 nach Hadamar verlegt. 12 Tage später starb er. Als Todesursache gab der Arzt in Hadamar, Dr. Wahlmann, „Entkräftung“ und „Marasmus“ [schwere Erkrankung, die meist Folge einer erheblichen Mangelernährung ist] an – Versuche das Kind zu versorgen, wurden in der Tötungsanstalt Hadamar eingestellt.

Kurt Jakob war das jüngste Kind, das sich im Fürsorge- oder Anstaltssystem befand und zwischen 1942–1945 in Hadamar ermordet wurde.

Wo Kurt beerdigt wurde ist heute nicht mehr bekannt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde er auf dem 1942 angelegten Anstaltsfriedhof in einem gesonderten Bereich beigesetzt. 13 Einzelgräber weisen auf Grabstellen von Kindern hin, die im Alter von bis zu 5 Jahren starben. Mit letztendlicher Sicherheit lässt sich dies jedoch nicht mehr beweisen.

* Eintragung in der „Krankheitsgeschichte“ Scheuern, LWV-Archiv, Best. 12, K 0876

Quelle : LWV-Archiv, Best. 12, K 0876

Wir danken der Stiftung Scheuern, dem Stadtarchiv Kassel, dem Hessischen Staatsarchiv Marburg, sowie dem LWV-Archiv Kassel für die Unterstützung zur Recherche.

Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto von einem Friedhof. Nebeneinander sind kleine Gräber zu sehen, auf denen nur schwarze Pfosten stehen. Im Hintergrund ist eine Mauer. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Kurt Jakob, auf dem anderen die Jahreszahlen 1940-1943. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Auf einem gesonderten Bereich des Anstaltsfriedhofs fanden die Amerikaner zum Zeitpunkt der Befreiung 13 Einzelgräber vor, in denen vermutlich Kinder bestattet wurden. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: United States Holocaust Memorial Museum, Photograph Number: 05414
Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto, auf dem ein junger Mann abgebildet ist. Er ist in einem Portrait-Format fotografiert worden und schaut in die Kamera. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Karl M., auf dem anderen die Jahreszahl 1914. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Portrait von Karl M. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, Best. 12, K 3093

Karl M. - „Sie können ihn an einem beliebigen Wochentag abholen“*

Karl M. wurde am 11. Dezember 1914 in Essen geboren. Seit seinem fünften Lebensjahr befand er sich in mehreren Waisen- und Erziehungsheimen. Mit den Bewertungen als „bildungsunfähig“ und „erbkrank“ wurde er 1928 in die Obhut der evangelischen Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ in Mönchen-Gladbach gegeben. Karl galt dort als „liebenswürdiger“ und „anhänglicher“ junger Mann, der sich jedoch auch leicht von anderen beeinflussen ließe und zu „Wutausbrüchen“ neige. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Personal kam er im Januar 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal bei Süchteln. Sein dortiger Aufenthalt war geprägt von zahlreichen Fluchtversuchen, bis er im Mai 1941 in Kontakt mit der NS-„Euthanasie“ kam.
Im Sammeltransport wurde er in die Anstalt Andernach verlegt, die zu diesem Zeitpunkt eine „Zwischenanstalt“ der Tötungsanstalt Hadamar war. Karl war also für die „Aktion T4“ selektiert worden. Am 20. Juni 1941 kam er mit über 100 weiteren Menschen nach Hadamar. Noch am Ankunftstag schickte man ihn jedoch zum
anstaltseigenen Hofgut Schnepfenhausen. Damit ist Karl M. die einzige uns bekannte Person, die diesen Transport überlebte.
Im August 1941 wurde die „Aktion T4“ abgebrochen. Karl blieb weiterhin als Patient auf dem Hofgut. Eine psychiatrische Behandlung erhielt er hier jedoch nicht mehr, von nun an ging es nur noch um seine Arbeitsfähigkeit. Er arbeitete fortan im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Schneiderei der Anstalt.
Ab August 1942 setzte in Hadamar ein zweites „Euthanasie“-Programm ein, bei welchem bis Kriegsende mehr als 4.400 Menschen durch den Entzug lebensnotwendiger Ressourcen und der Gabe überdosierter Medikamente ermordet wurden. Karl befand sich auf dem Hofgut erneut in unmittelbarer Reichweite der „Euthanasie“.
Karl und seine Familie wünschten sich bereits seit Jahren eine Entlassung. Seine Patientenakte enthält Briefe seines jüngeren Bruders an die Anstalt Hadamar mit der Bitte zur „Freilassung“ von Karl. Im November 1942 sollte diese Bitte erfolgreich sein, Karl durfte von seinem Bruder abgeholt werden. Nach jahrzehntelangem Anstaltsaufenthalt war Karl an seinem 28. Geburtstag, am 11. Dezember 1942, wieder bei seiner Familie.

* Auszug aus einem Schreiben des Arztes Dr. Wahlmann an den Bruder, November 1942 (LWV-Archiv, Best. 12, K 3093).

Quelle: LWV-Archiv, Best. 12, K 3093

Wir danken dem Standesamt Essen, den Stadtarchiven Düsseldorf, Euskirchen und Wuppertal, sowie dem Landesarchiv NRW für die Unterstützung zur Recherche.

Renate Brüggemann

Im Mai 1920 wurde Renate in die Limburger Arbeiterfamilie Fischer geboren. Sie war das dritte von vier Kindern. Bis sie 15 Jahre alt war besuchte sie die Volksschule in Limburg. Drei Jahre später starb ihre Mutter. Renate hatte nach damaligem medizinischem Verständnis eine angeborene geistige Behinderung. Aufgrund dieser Diagnose und einem aus damaliger gesellschaftlicher Sicht „haltlosen Lebenswandels“ wurde sie im Alter von 20 Jahren zwangssterilisiert. Ein Jahr später heiratete sie den 24 Jahre älteren Arbeiter Theodor Brüggemann. Sie lebten zusammen in Limburg in ihrem Elternhaus.

Im Herbst 1942 erhielt die Familie die Nachricht über den „Heldentod“ von Renates jüngerem Bruder. Daraufhin bemerkte die Familie bei ihr eine „plötzliche Veränderung“. Da Renate aus ärztlicher Sicht psychiatrische Behandlung und Fürsorge brauchte, wurde sie am 17. Oktober 1942 von ihrer Stiefmutter zur Aufnahme in die Anstalt Hadamar gebracht. Sie kam auf die Station „II a“, eine der Frauenstationen im Hauptgebäude der Anstalt.
Hadamar war zu diesem Zeitpunkt jedoch längst kein Ort der Pflege mehr, sondern eine Tötungsanstalt der NS-„Euthanasie“. Durch die nahezu permanente Überbelegung der Anstalt sowie mangelnder hygienischer Versorgung waren die Frauen in desolaten Zuständen untergebracht. Insbesondere die nicht arbeitsfähigen Patientinnen mussten aufgrund einer bewussten Mangelernährung Hunger leiden. Zusätzlich wurde unter anderem auf der Station „II a“ mit überdosierten Medikamenten gezielt gemordet.

Das Sterben auf der Station blieb auch den Frauen selbst nicht verborgen. Was Renate miterlebte, können wir nicht mehr beurteilen. In ihrer Krankenakte wurde sie als pflegebedürftige Patientin beschrieben, deren Zustand sich ab Ende Oktober rapide verschlechterte. Am 18. November 1942 starb sie in der Tötungsanstalt im Alter von 22 Jahren.
Der Leichnam von Renate Brüggemann wurde nach Limburg überführt und auf dem städtischen Hauptfriedhof beerdigt. Sie ist damit eine von wenigen in Hadamar ermordeten Menschen, deren Leichnam ab 1942 nicht auf dem Anstaltsfriedhof im Massengrab vergraben wurde.

Am 05. November 2022 wurden in Limburg acht Stolpersteine für Opfer der „Euthanasie“ verlegt. Einer ist für Renate Brüggemann. Die Verlegung wurde von dem Stadtarchiv und der Stadt Limburg organisiert.

Quelle:
LWV-Archiv, Best. 12, K 3645
HStAWi, Best. 473/3 Nr. 679
StALM II/3271

Wir danken dem Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, sowie dem Stadtarchiv Limburg für die Unterstützung zur Recherche und die Bereitstellung der Fotografie.

Eine Grafik mit einem hellblauen Hintergrund. Rechts oben steht in mittelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945. In der Mitte ist ein großes Foto von einem Stolperstein abgebildet., auf dem neben dem Namen Renate Brüggemann auch die Lebens- und Sterbedaten eingraviert sind. Rechts unten sind zwei0 mittelblaue Balken, im ersten Balken steht in weißer Schrift "Renate Brüggemann", im zweiten steht "1920-1942" geschrieben.
Stolperstein für Renate Brüggemann in Limburg an der Lahn. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: StALM II/3271
Grafik der Kampagne #Hadamar1942Bis1945. Der Hintergrund der Grafik ist hellblau, in der Mitte ist ein schwarz-weiß Foto, auf dem eine junge Frau abgebildet ist. Sie trägt eine Schürze und eine karierte Bluse und schaut etwas verlegen in die Kamera, sie lächelt. Rechts unten sind zwei Balken eingefügt: auf dem einen steht Maria Wolter, auf dem anderen die Jahreszahlen 1902 - 1942. Die Balken sind dunkelblau. Oben links in der Ecke steht in dunkelblauer Schrift: #Hadamar1942Bis1945.
Portrait von Maria Wolter. Grafik: Gedenkstätte Hadamar; Foto: LWV-Archiv, Best. 12, K 2176

Maria Wolter – 'Ganz besonders ist ihr kolossaler Eigensinn zu betonen.'*

Maria Wolter wurde im Sommer 1902 in Köln-Riehl geboren. Bereits im Alter von zwei Jahren befand sie sich in Anstaltspflege. Sie galt als „verträgliches“ und „geselliges“ Kind, das wenig sprach und gerne mit Puppen spielte. Über die Jahre wurde sie vom Pflegepersonal jedoch zunehmend als aggressive und unberechenbare junge Frau beschrieben. Zudem sei sie eine „eigensinnige“ Patientin, die sich zu keiner Behandlung oder Arbeit bewegen ließ, die sie selbst nicht wollte. Über ihre Familienverhältnisse oder eigenen Gedanken und Gefühle erfahren wir aus den Quellen leider nichts mehr. 

Maria galt in der damaligen medizinischen Vorstellung als „erbkrank“. Durch das 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde bei ihr eine Zwangssterilisation möglich. Für Maria wurde jedoch keine Anzeige beim Erbgesundheitsgericht gestellt, da sie als „Dauerfall“ nie die Möglichkeit bekommen sollte, jemals aus der Anstalt entlassen zu werden. Seit 1939 befand sie sich schließlich in der Anstalt Kloster Hoven bei Zülpich, ein von Augustinerinnen geführtes Pflegeheim für katholische weibliche „Geisteskranke“. 

Marias Schicksal wurde in den folgenden Jahren stark vom Kriegsverlauf geprägt. Das Rheinland  war Mitte 1942 von alliierten Bombardierungen betroffen, darunter auch die Stadt Köln. Um Platz für die Versorgung möglicher Bombenopfer zu gewinnen, sollten Kölner Altenheimbewohner:innen in die nahegelegenen Anstalten Düren und Kloster Hoven verlegt werden. Um dies zu ermöglichen, sollte ein Teil der dort untergebrachten Patientinnen weichen. So gelangten 368 Frauen am 18. August 1942 von Kloster Hoven in die hessische Anstalt Hadamar. Es war der größte Transport, der bis Kriegsende in Hadamar ankommen sollte und der letzte Direkttransport aus dem Rheinland. Unter den verlegten Frauen befand sich auch Maria Wolter.

Maria überlebte nur wenige Tage in Hadamar, am 26. August 1942 starb sie. Sie wäre an diesem Tag 40 Jahre alt geworden. Sie gehört damit zu den ersten Ermordeten der neu eingerichteten Tötungsanstalt Hadamar, wo bis Kriegsende durch überdosierte Medikamente, Nahrungsmittelentzug und extreme Vernachlässigung gemordet wurde.

An Marias Schicksal zeichnete sich ein System ab, das in den nächsten Jahren zentral für die NS-Gesundheitspolitik werden sollte: Der Druck des Krieges führte zu einem immer radikaleren Ausschluss von Psychiatriepatient:innen aus der medizinischen Versorgung. Sie wurden bewusst an Orte verdrängt, an denen es nur wenig bis gar keine Chancen zum Überleben gab.

*Auszug eines ärztlichen Aufnahmeprotokolls, Oktober 1904 (LWV-Archiv, Best. 12, K 2176).

Quelle: LWV-Archiv, Best. 12, K 2176