Mordstätte für die Ausgegrenzten der NS-Kriegsgesellschaft

Im August 1942, ein knappes Jahr nach dem Stopp der „Aktion T4“, begann das Personal der Landesheilanstalt Hadamar erneut, Menschen zu ermorden. Nach außen hin wurde wieder ein Anstaltsbetrieb aufgenommen und Patientinnen und Patienten belegten Stationen. Der neue „Anstaltsalltag“ war allerdings geprägt und bestimmt von gezielten Tötungen. Diese waren Teil der „dezentralen Euthanasie“: In dieser Zeit wurde im gesamten Deutschen Reich durch überdosierte Medikamente, Mangelernährung und extreme Vernachlässigung in zahlreichen psychiatrischen Einrichtungen gemordet. Heute sind mehr als 4.400 Ermordete in Hadamar namentlich bekannt.

Hadamar entwickelte sich während der „dezentralen Euthanasie“ zu einem der zentralen Tötungsorte. Anders als bei der „Aktion T4“ gab es keine aus Berlin gesteuerte Organisation der Morde mehr. Die Verantwortung lag nun zu großen Teilen bei den Länder- und Provinzialverwaltungen, die auch ohne zentrale Anweisungen die „Euthanasie“ in ihren Anstalten weiterführten.

Menschen aus dem gesamten damaligen Deutschen Reich sowie aus deutsch besetzten Ländern, vornehmlich Polen und der Sowjetunion, wurden in Hadamar eingewiesen und ermordet. Damit einhergehend kam es unter dem Eindruck des Krieges zu einer radikalen Ausweitung der Opfergruppe. In Hadamar wurden Menschen getötet, die für die Weiterführung des Krieges und innerhalb der NS-Ideologie zunehmend als „Ballast“ gebrandmarkt waren.

Bis 1945 starben auf den Anstaltsstationen neben psychisch erkrankten Bombengeschädigten, ehemaligen Soldaten der Wehrmacht und Waffen-SS sowie psychisch erkrankten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern auch Kinder und Jugendliche. Darüber hinaus gab es ab 1943/44 Menschen, die nicht aufgrund psychiatrischer Diagnosen ermordet wurden: überwiegend an Tuberkulose erkrankte Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie „jüdische Mischlingskinder“, die durch Fürsorgeeinrichtungen nach Hadamar überstellt wurden.
Die tägliche Selektion zur Ermordung wurde vom medizinischen Personal vor Ort getroffen, der Mord selbst individuell durch das diensthabende Pflegepersonal ausgeführt. Nach der Aufnahme in Hadamar waren die Überlebenschancen verschwindend gering. Nur in Ausnahmefällen überlebten die Menschen länger als ein paar Wochen oder Monate. Ein heute bekanntes Auswahlkriterium für den Zeitpunkt der Ermordung war die noch vorhandene Arbeitsfähigkeit der Menschen.

Angehörige wurden systematisch über das Schicksal ihrer Familienmitglieder belogen. So auch in Bezug auf die letzte Ruhestätte. Ab 1942 wurden die ermordeten Menschen mehrheitlich in Massengräbern verscharrt. Als Tarnung wurde ein Anstaltsfriedhof mit vorgetäuschten Einzelgräbern angelegt.

Mit dem Einmarsch der US-Soldaten am 26. März 1945 endete der Zweite Weltkrieg und damit die NS-Herrschaft in der Stadt Hadamar und in der Tötungsanstalt. Doch auch in den folgenden Tagen, Wochen und zum Teil Monaten starben noch Menschen aufgrund der zuvor erlittenen extremen Vernachlässigung und Mangelernährung.

Schwarz-Weiß-Foto. Ein US-amerikanischer Soldat steht am rechten Bildrand mit dem Rücken zur Kamera und blickt auf einen Friedhof mit mehreren Reihen schmuckloser Einzelgräber.
Anstaltsfriedhof nach der Befreiung durch die US-Armee, fotografiert durch einen Militärfotografen, ca. Ende März/Anfang April 1945. Foto: United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Rosanne Bass Fulton, Photograph Number: 05508

Literatur: Jan Erik Schulte, Die „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hadamar und die Ausdehnung der Mordaktionen 1942 bis 1945, in: Andreas Hedwig u. Dirk Petter (Hg.), Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert, Marburg 2017, S. 117–135.