Karl M. - „Sie können ihn an einem beliebigen Wochentag abholen“*
Karl M. wurde am 11. Dezember 1914 in Essen geboren. Seit seinem fünften Lebensjahr befand er sich in mehreren Waisen- und Erziehungsheimen. Mit den Bewertungen als „bildungsunfähig“ und „erbkrank“ wurde er 1928 in die Obhut der evangelischen Bildungs- und Pflegeanstalt „Hephata“ in Mönchen-Gladbach gegeben. Karl galt dort als „liebenswürdiger“ und „anhänglicher“ junger Mann, der sich jedoch auch leicht von anderen beeinflussen ließe und zu „Wutausbrüchen“ neige. Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Personal kam er im Januar 1939 in die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal bei Süchteln. Sein dortiger Aufenthalt war geprägt von zahlreichen Fluchtversuchen, bis er im Mai 1941 in Kontakt mit der NS-„Euthanasie“ kam.
Im Sammeltransport wurde er in die Anstalt Andernach verlegt, die zu diesem Zeitpunkt eine „Zwischenanstalt“ der Tötungsanstalt Hadamar war. Karl war also für die „Aktion T4“ selektiert worden. Am 20. Juni 1941 kam er mit über 100 weiteren Menschen nach Hadamar. Noch am Ankunftstag schickte man ihn jedoch zum
anstaltseigenen Hofgut Schnepfenhausen. Damit ist Karl M. die einzige uns bekannte Person, die diesen Transport überlebte.
Im August 1941 wurde die „Aktion T4“ abgebrochen. Karl blieb weiterhin als Patient auf dem Hofgut. Eine psychiatrische Behandlung erhielt er hier jedoch nicht mehr, von nun an ging es nur noch um seine Arbeitsfähigkeit. Er arbeitete fortan im landwirtschaftlichen Betrieb und in der Schneiderei der Anstalt.
Ab August 1942 setzte in Hadamar ein zweites „Euthanasie“-Programm ein, bei welchem bis Kriegsende mehr als 4.400 Menschen durch den Entzug lebensnotwendiger Ressourcen und der Gabe überdosierter Medikamente ermordet wurden. Karl befand sich auf dem Hofgut erneut in unmittelbarer Reichweite der „Euthanasie“.
Karl und seine Familie wünschten sich bereits seit Jahren eine Entlassung. Seine Patientenakte enthält Briefe seines jüngeren Bruders an die Anstalt Hadamar mit der Bitte zur „Freilassung“ von Karl. Im November 1942 sollte diese Bitte erfolgreich sein, Karl durfte von seinem Bruder abgeholt werden. Nach jahrzehntelangem Anstaltsaufenthalt war Karl an seinem 28. Geburtstag, heute vor 80 Jahren, wieder bei seiner Familie.
Wir veröffentlich in der Kampagne #Hadamar1942Bis1945 Biografien der Verfolgten und Ermordeten der „dezentralen Euthanasie“ zwischen 1942 und 1945. Hier finden sich alle bisher veröffentlichten Biografien.
* Auszug aus einem Schreiben des Arztes Dr. Wahlmann an den Bruder, November 1942, LWV-Archiv, Best. 12, K 3093.
Quelle: LWV-Archiv, Best. 12, K 3093
Wir danken dem Standesamt Essen, den Stadtarchiven Düsseldorf, Euskirchen und Wuppertal, sowie dem Landesarchiv NRW für die Unterstützung zur Recherche.