Das ehemalige Krankenhausgebäude der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein war während der Zeit des Nationalsozialismus ein Tatort der sogenannten „Kindereuthanasie“.
Im Sommer 1939 formierte sich der „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“. Hinter dem langen Namen verbarg sich eine Tarnorganisation. Sie gehörte zu der Adolf Hitler unterstellten Kanzlei des Führers der NSDAP und wurde vom Reichsministerium des Innern unterstützt. Die eigentliche Aufgabe des „Reichsausschusses“ war die Erfassung und Auswahl möglicher Opfer sowie die Organisation eines zentral gesteuerten Mordprogramms: der „Kindereuthanasie“.
Kurz vor Kriegsbeginn versandte das Reichsministerium des Innern einen vertraulichen Erlass: Hebammen und Ärzte und Ärztinnen waren verpflichtet, den jeweiligen Gesundheitsämtern Säuglinge und Kleinkinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu melden – angeblich zur „Klärung wissenschaftlicher Fragen“.
Die eingereichten Meldebögen wurden gesammelt und an die ärztlichen Gutachter des „Reichsausschusses“, Werner Catel, Ernst Wentzler und Hans Heinze, weitergegeben. Ohne die betroffenen Kinder gesehen zu haben, urteilten sie über ihr Leben. Die Kinder, deren Tod entschieden wurde, brachte man in eine der über 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“, die zwischen 1940 und 1945 in Kliniken oder Heil- und Pflegeanstalten eingerichtet wurden. Eine davon auf dem Kalmenhof.
Schrittweise hob man die Altersgrenze an, sodass später auch Jugendliche zu den Verfolgten und Ermordeten zählten.
Bis Kriegsende töteten Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in diesen „Kinderfachabteilungen“ über 5.000 Menschen. Sie verabreichten ihnen überdosierte Medikamente oder ließen sie verhungern. Eine genaue Opferzahl ist nicht bekannt.
Die „Kinderfachabteilung“ in Idstein wurde vermutlich zwischen Ende 1941 und Anfang 1942 eingerichtet und bestand bis zur Befreiung der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof im März 1945. An diesem Ort entsteht zurzeit ein Gedenk- und Lernort. Wir informieren Sie hier regelmäßig über die Fortschritte.
Foto: Ausschnitt eines Schreibens des „Reichsausschusses“ an den Leiter der „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg bei Eltville, (LWV-Archiv, Best. 12, K3438). Auf dem Eichberg befand sich die zweite „Kinderfachabteilung“ auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen.